Philipp Stoellger - „Deutungsmacht und Deutungsmachtkonflikte zwischen Recht und Religion: Ergebnisse eines Forschungsprojektes“

Deutungsmacht – was ist das?

Zu einem Forschungsprojekt über Deutungsmachtkonflikte in Religion und belief-systems

Was haben Gauck und Google gemeinsam, oder Ratzinger und Ratingagenturen, Hollywood und die Tagesschau, Apple und Amnesty International, oder Gutachter und andere Götter?

Eine Antwort darauf ist: Deutungsmacht.

Jeder hätte sie gern, viele kämpfen darum, manche haben sie sogar – aber keiner kann genau sagen, was das eigentlich ist. Das ist auch nicht nötig, weil sie wirkt und funktioniert, auch ohne dass man sagen kann, ‚was das ist’. Sie ist eine Selbstverständlichkeit in Politik und Gesellschaft, Wirtschaft und Religion oder Kulturbetrieb und Krieg. Nur wäre es doch wissenschaftlich wünschenswert, genauer sagen zu können, womit man es zu tun hat, wenn Deutungsmacht im Spiel ist.

Es gibt die Macht zur Entscheidung, wie sie Richter, Parlamente und Firmenchefs haben. Da wird nicht nur gedeutet, sondern gesagt, wo es lang geht, manchmal wenigstens. Es gibt auch Ordnungsmacht von Polizei und anderen Ordnungshütern, etwa in Währungsfragen. Es gibt mancherlei Machtformen, wie Kontrolle, Disziplinierung, Verfügung bis hin zur seltsamen ‚Allmacht’, wie sie Gott zugesprochen wurde und die heute eher bei Geld und Märkten gesucht wird. Was also ist im Unterschied dazu Deutungsmacht? Dass es so etwas gibt, mögen Gauck, Google und Co. andeuten. Dass sie auch verspielt werden kann, zeigen Wulff, Grass, Handke und ihre Verwandten.

Aber ‚was’ das genau ist, was da verspielt wurde, oder was einem erfolgreichen Film oder einer Marke zu eigen ist, wüsste man gern genauer. Nicht zuletzt, weil Religionen heute untereinander und mit anderen um Deutungsmacht streiten, oder weil Religionssemantik zur Deutung von kulturellen oder ökonomischen Konflikten benutzt wird.

Deutungsmacht hat, wer etwas zu sagen hat. Und zwar nicht nur, weil er qua Amt das Sagen hat, sondern weil er wirklich etwas zu sagen hat. Das sind dann ‚anerkannte Autoritäten’, Jesus zum Beispiel, vielleicht auch ein Bundespräsident, wenn es gut geht, oder ein Bischof, in Rom oder in Hannover, manchmal auch schlicht ein Prediger auf seiner Kanzel oder ein Literat in seiner Schreibstube.

‚Wer etwas zu sagen hat’, das ist notorisch mehrdeutig. Ein Tagesschausprecher hat viel zu sagen, aber hat er das Sagen, wenn er nur seine Stimme verleiht, seinen Körper vor die Kamera setzt, um vom Teleprompter abzulesen? Da hat ein Prediger oder Präsident größere Freiheiten. Aber eine Zeitung zum Beispiel oder eine mit bester Quote gesegnete Sendung? Die hat Deutungsmacht kraft der großen Zahl und Aufmerksamkeit, auf die sie sich verlassen kann – solange sie die nicht zu oft enttäuscht. Zeitungen oder Sendungen haben das Sagen, auch wenn sie einmal nicht wirklich etwas zu sagen haben. Nur geht das nicht lange gut. Auch das zeigen Präsidenten und Prediger.

Deutungsmacht ist ‚irgendwie’ die soziale und kommunikative Form von Macht, ihr semantisches Wie, Woher und Wozu. Man könnte auch sagen: es ist sinnvolle Macht, von Sinn imprägniert – oder zumindest von Anspruch und Begehren nach Sinn.

Deutungsmacht ist nicht nur eine Sache des Sagens, der Worte, sondern auch des Zeigens und der Bilder. Hollywood zum Beispiel hat Deutungsmacht, weil ein ‚guter’ Film etwas zu zeigen hat und es so oder so zeigt, das Bankenwesen etwa oder politische Verhältnisse, die im Film zum Tanzen gebracht werden können. Auch Google kann etwas zeigen oder auch nicht. Darüber bestimmt nicht zuletzt das Geld, das man zu investieren bereit ist, um auf der ersten Seite zu erscheinen. Und was Google kann, konnte Gott schon lange: die Welt so oder so aussehen lassen, sich selbst zeigen und seinen Willen.

Deutungsmacht ist daher auch die Macht des Zeigens, mit der den Anderen etwas so oder so gezeigt wird. Deutungsmacht läßt uns sehen, so oder so sehen. Sie lässt und macht uns auch fühlen, so oder so. Filme und andere Phantasiemedien zeigen das täglich. Und die ökonomische Apokalyptik oder Messianik, die politischen daily soaps oder die battlefields der Religionskulturen sind nicht weniger real wie phantasiereich, im Hellen wie im Dunklen. Denn auch die dark sides of life gehört zur Deutungsmacht: Feindbilder ebenso wie Feinde und ihre Selbstbilder. Ein Bin Laden ist nur zu deutungsmächtig, als Toter erst recht, wenn er medial auferweckt weiterwirkt.

Deutungsmacht ist die Macht uns sehen zu lassen und fühlen zu machen, so oder so. Es ist die Macht des Wortes wie der Bilder, meist der Medien und manchmal auch der ‚Charismatiker’ und Autoritäten. Wenn es gut geht, hat der Deutungsmächtige wirklich etwas zu sagen und zu zeigen. Aber Deutungsmacht wirkt auch noch, wenn ihre Stifter und Träger längst vergangen sind. Denn imaginäre Größen, faszinierende ebenso wie fürchterliche, sind allemal deutungsmächtiger als bloß reale. Es scheint, als hätte Deutungsmacht etwas mit dem Schein des Seins zu tun, und das Scheinen läßt die Welt so oder so aussehen.

Prof. Dr. Philipp Stoellger

Theologische Fakultät Rostock

 

Zur Person:

Phillip Stoellger wurde 1967 in Göttingen geboren und studierte von 1987 bis 1994 evangelische Theologie und Philosophie in Göttingen, Tübingen und Frankfurt am Main. 1995 legte er das Theologische Examen der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers ab und erhielt das Diplom der Evangelischen Theologie der Universität Göttingen. Von 1995 bis 2000 war er als wissenschaftlicher Assistent an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich beschäftigt. Nach seiner Promotion 1999 mit dem Thema „Metapher und Lebenswelt. Hans Blumenbergs Metaphorologie als hermeneutische Phänomenologie geschichtlicher Lebenswelten und ihr religionsphänomenologischer Horizont“ war er ab 2000 erst Oberassistent an der Universität Zürich, von 2001 bis 2007 geschäftsführender Oberassistent des Instituts für Hermeneutik und Religionsphilosophie an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich. In dieser Zeit war er Redakteur der Hermeneutischen Blätter des Instituts für Hermeneutik und Religionsphilosophie und Mitbegründer des Zürcher Kompetenzzentrums Hermeneutik. Von 2003 bis 2009 war er Mitglied der Forschungsgruppe zur Kompetenz des Bildes und der Forschungsgruppe zu Potentialen des Bildes an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) in Heidelberg. 2005 und 2006 hatte Professor Stoellger Fellowships an der Law School der Yale University und am Wissenschaftskolleg zu Berlin inne. 2006 habilitierte er mit der Arbeit „Passivität aus Passion. Zur Problemgeschichte einer categoria non grata“ und erhielt die Venia Legendi für Systematische Theologie und Religionsphilosophie. 2007 erhielt er einen Ruf an den Lehrstuhl für Systematische Theologie und Religionsphilosophie an der Theologischen Fakultät der Universität Rostock. Dort gründete Professor Stoellger das Institut für Bildwissenschaft. Ein Jahr später wurde er Vorstandsmitglied des Profilelements „Wissenskulturen“ der Interdisziplinären Fakultät der Universität Rostock und nominierter Sprecher des GRK-Antrags „Deutung – Macht – Differenz“. 2009 war Stoellger federführend im Antrag auf die Profillinie 4 Wissenskulturen; darüber hinaus ist er seit 2009 Vorstandsmitglied der Gesellschaft für interdisziplinäre Bildwissenschaft. Im Jahr 2010 Rufe an die Universitäten Jena, Halle/Saale und Bern. Seit August 2011 ist Professor Stoellger Fellow des Käte Hamburger Kollegs „Recht als Kultur“.